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Darmstädter Echo 06.12.2008

Bewohnte Kunstinstallation: „WEIHNACHTEN08“
Ritual in roter Tusche
leer

SANDIP SHAH hat sein Wohnimmer zur Galerie gemacht – oder doch die Galerie zum Wohnzimmer? Bis in den Januar hinein zeigt er seine Weihnachtsausstellung. (Foto: Günther Jockel)



Fehlt eigentlich nur noch die Platte mit unseren beliebtesten Weihnachtsliedern zur akustischen Berieselung. Die Nadeln am rot geschmückten Christbaum stehen jedenfalls noch gut im Saft; eine elektrische Eisenbahn, deren Gleisring rund um seinen Fuß führt, tuckert den immergleichen Weg. Und an der Wand hängt ein Ölgemälde, dem man den Titel „Madonna“ gibt, auch ohne es durch Inspizieren der Rückseite unbedingt überprüfen zu müssen.

Eine junge Frau, die linke Brust entblößt, hält einen Buben auf dem Schoß. Beide blicken den Betrachter aus ikonenhaft übergroßen Augen an. Das alles flirtet heftig mit Devotionalienkitsch. Trotzdem wird einem bald mulmig zumute: von holdem Madonnenblau keine Spur; stattdessen heben sich die aneinandergeschmiegten, anatomisch ein wenig verwachsen wirkenden Figuren vom lichtgelben Fond ab mit Gewändern, deren Purpurrot von geradezu luziferischer Sinnlichkeit ist.

Die Urheberin des Werks, die Frankfurter Malerin Corinna Mayer, ist eine von sechs Künstlern, deren Beiträge Sandip Shah ausgewählt hat, um mit ihnen während der diesjährigen Advents- und Weihnachtszeit zu leben. „Alles aktuelle Arbeiten“, versichert der Herr der bewohnten Kunstinstallation (bKI), „kein Schnee von gestern.“ Auch eine Handvoll eigener Bilder gehört dazu.

Die Motive dazu hat Shah von seinem kürzlichen Antwerpen-Stipendium mitgebracht. Ganz reduziert auf Schwarz, Weiß und Grautöne, könnten es bereits Ansichten des winterlichen Stadtzentrums sein – doch ohne touristisches Wiedererkennungs-Aha. Die Pinselführung hat alles Feste zum Schmelzen gebracht, in sich windende Farbwürmer verwandelt, so dass selbst moderne Fassaden wie überzogen sind vom Skulpturenwust gotischer Kathedralen. Erholen kann sich das Auge vor Julia Philipps’ sensibler Farbfeldmalerei.

Innerhalb der kunterbunt hüpfenden Hängung formieren sich ihre Mini-Täfelchen zu einem kohärenten Block wie nach der Schokoladenwerbung: quadratisch, praktisch, gut. Zwischen die Felder gezogene Horizontalstreifchen Fotografie vermitteln, je nach Breite, mal den Eindruck einer geöffneten Blende, mal einfach den des Horizonts.

An das, was man in der Kunst einst „Neue Landschaft“ nannte, scheint eine Serie Arbeiten auf Papier von Werner Neuwirth anzuknüpfen. Genaugenommen handelt es sich um lyrisch verspielte abstrakte Kompositionen mit Gemaltem und Gesprühtem und Schabloniertem, mit gezeichneten Regenbogen-Fäden und gummibärchenbunten Reihungen – „neuer Neuwirth“ statt „Neue Landschaft“.´

Eine betont städtische Fantasie bringt Fides Becker in die Runde. Auf Trägern, zusammengenäht aus Laken- und Deckenresten, deren Druckdekor ergänzt sein kann um florale Malerei, gibt sie ihren Kommentar ab zur Zerrissenheit der Frau zwischen fremdbestimmter Rolle und eigenen Sehnsüchten. Was in Worten arg soziologisch-trocken klingt, treibt satirische Spitzen, wenn die Malerin öfters ihre staksig-schräge Bild-Protagonistin – lauter Selbstporträts, wie man hört – mitten in einen wie explodiert konfusen Haushalt setzt.

Shahs mit sicherem Qualitätsgespür getroffene Auswahl wird, wieder einmal, gekrönt von den Blättern Bea Emsbachs. Was die formidable Zeichnerin in roter Tusche entwickelt, summiert sich zu einer ganz eigenen Vision von Welt, wo Menschen symbiotisch mit rätselhaften Apparaturen und Prothesen leben und Frisuren und Bärte, Kleider und Behausung dichtgewobenen Nestern gleichen. Rituale offenbar einer Zeit, viele Jahrtausende vor oder nach dem Weihnachten, wie wir es kennen.

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Roland Held
6.12.2008